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Störfälle
Jennifer Bork
„Déjà-Vu“, Ausstellungskatalog der Jahresstipendiatin Bildende Kunst 2017/18 der KSN-Stiftung, Northeim 2018
Die Video-Arbeiten von Meike Redeker kreisen inhaltlich um Themen wie Konsumgüter, Individualität in Abgrenzung zur Masse oder thematisieren verschiedene Aspekte des habituellen, menschlichen Verhaltens. Sie hinterfragt mit filmischen Mitteln unsere Realitätswahrnehmung. In der Ausstellung Déjà-Vu arbeitet sie zudem mit verschiedenen wiederkehrenden Motiven wie Wiederholungen und Dopplungen.
Das Déjà-vu ist eine Täuschung des Gehirns, für einen Moment erscheint eine neue Situation bekannt. Es entsteht ein „Fausse reconnaissance“, ein „falsches Wiedererkennen“. Gerade deswegen ist es beunruhigend selbstreflexiv: Für einen kurzen Moment wird klar, dass die konstante Realitätserfahrung eine komplexe Leistung unseres Gehirns ist, an welcher diverse Vorgänge beteiligt sind. Das Déjà-vu ist ein Störfall, welcher uns aus der selbstverständlich erscheinenden Einheit von Raum und Zeit herausreißt, eine Unzuverlässigkeit offenbart und dadurch ein Unbehagen auslöst.
In Das Produkt (2018) produziert Meike Redeker dieses durch das Déjà-vu entstehende Unbehagen bewusst. Die in Northeim entstandene Arbeit setzt sich direkt mit den Ausstellungsräumen auseinander und nutzt die strenge Ordnung der vorhandenen architektonischen Struktur. Die Protagonistin des Films ist auf die Faltung eines Papiers konzentriert, das sie anschließend auf eine Scanner-ähnliche Maschine legt, wo diese von einer gleich aussehenden Arbeiterin heruntergenommen wird, welche die gleiche Handlung erneut ausführt und die Kette scheinbar weiter fortführt. Oder ist die Szene und damit die Protagonistin stets dieselbe? Sie ist durch eine Maske verfremdet, trägt einen blauen Overall mit grünen Latex-Handschuhen, wie man sie aus Laborzusammenhängen kennt. Sämtliche Individualitätsmerkmale sind durch die Kleidung getilgt worden. Die Geräusche scheinen nur aus dem Surren und Klicken der Apparatur zu bestehen und geben dem Filmgeschehen einen Takt vor. Die Bewegungen der Protagonistin sind dieser maschinellen Rhythmik angepasst, sie sind nicht natürlich fließend, sondern wirken merkwürdig technisiert. Was das Déjà-vu im menschlichen Gehirn macht, nämlich das Raum-Zeit-Gefüge kurz aufzulösen, erzeugt Meike Redeker mit den Möglichkeiten der Montage. So bietet etwa die angebotene Raumkonstruktion keinen Halt. Die Protagonistin agiert in einem kafkaesken Raumgefüge aus Spiegelungen und Dopplungen, welches unendlich weiterzugehen scheint. Meike Redeker arbeitet hier über den Raum und die Montage mit einer Strategie, die zwar nicht medienspezifisch dem Film zuzuordnen ist, die dieser aber vielleicht am augenfälligsten abbilden kann: die Abimisierung. Darunter versteht man etwa eine Geschichte, in der jemand eine Geschichte erzählt, in der jemand eine Geschichte erzählt… Diese Strategie erzeugt nicht nur ein Unbehagen, sie hält den Betrachter durch ihre offengelegte Konstruktion auf Distanz.
Auch auf der Zeitebene setzt Meike Redeker bewusste Irritationen der Wahrnehmung ein. So lässt sie die Handlungsabläufe mal rückwärts, mal vorwärts ablaufen. Die Bewegungen der Gefilmten wirken dadurch bekannt und fremd zugleich. Wie beim Déjà-vu werden die Orientierungspunkte für unsere Zeitwahrnehmung ausgeschaltet. Die Präzision mit der die Handlung wiederholt ausgeführt wird, stellt zudem eine Professionalitäts- und Bedeutungsbehauptung dar. Der Zuschauer bekommt kein fertiges Produkt zu Gesicht, es wird jedoch impliziert, dass es sich um etwas von Relevanz handeln muss. Das in der Filmhandlung entstehende Produkt selbst bleibt, um bei Kafka zu bleiben, ein Odradek.
Die Frage nach der Behauptung von Individualität spielt in Die Beunruhigenden Musen (2016) eine Rolle. Die Kamera ist frontal aufgestellt und zeigt mit einigem Abstand ein Bekleidungsgeschäft. Die Protagonistin trägt das gleiche Outfit und nimmt die gleiche Pose ein, wie die Schaufensterpuppe am Eingang. Mit starrem Blick in Richtung Kamera bleibt sie genau auf der Schwelle stehen, auf welcher der Alarmton des Geschäftes ausgelöst wird. Es ist ein Zwischenraum der den Übergang der Kleidung zwischen privater Aneignung und dem Industrieprodukt markiert. Noch deutlicher wird dies durch die optische Verknüpfung von Person und Puppe als Doppelgängerin oder Stellvertreterin. Diese wirft Fragen über einen paradoxen Zusammenhang auf: Die immense Bedeutung von Individualität und Authentizität in unserer Gesellschaft wird konterkariert durch die Massenproduktion und die soziale Rolle. Meike Redeker verweist mit dieser Arbeit sehr treffend auf den Unterschied zwischen Person (als Individuum) und Persona, die der Psychoanalytiker C. G. Jung so beschreibt: Die Persona ist „[…] nur eine Maske der Kollektivpsyche, eine Maske, die Individualität vortäuscht, die andere und einen selber glauben macht, man sei individuell, während es doch nur eine gespielte Rolle ist, in der die Kollektivpsyche spricht.“ […] „Sie ist ein Kompromiß zwischen Individuum und Sozietät über das, ‚als was Einer erscheint’.“ 1
Der Zusammenhang zwischen Individuum und sozialer Gruppe ist auch ein Motiv in der Arbeit Familienbilder (2012). Wir sehen vier junge Frauen und Männer, die stumm vor der Kamera agieren und gemeinsam an einem Esstisch sitzen. Es gibt typischdeutsche Hausmannskost. Die Kamera fängt die Gruppe jedoch nicht als Gesamterscheinung ein, sondern fokussiert stets eine Person im Portrait. Während sie dies tut, sind sich die Protagonisten ihrer Anwesenheit sehr bewusst. Der Blick ist genau auf das Objektiv gerichtet, teilweise lächeln sie leicht, als würden sie nicht gefilmt, sondern fotografiert werden. Unermüdlich wird Essen auf die Teller gehäuft und gegessen, während die Konzentration nicht von der Kamera abweicht. Die Anwesenheit des Apparates verändert die Machtverhältnisse der Situation. Die Kontrolle wird abgegeben, dies wird angesichts des Kontrastes mit der alltäglichen Handlung des Essens überdeutlich. Meike Redeker verweist hier auf Konventionen des fotografischen Familienportraits und führt deren Posen mit der Filmkamera ad absurdum. Denn während das Foto nur einen Moment einfängt, verweist die Filmkamera auf einen Moment davor und danach. Die Zeit wird ausgedehnt und in viele Momente vereinzelt.
Eine Gegenüberstellung von inszeniertem Porträt und Individuum erfolgt zudem in der neuen Arbeit Vereine tauschen (2018). Für diese hat Meike Redeker diverse Vereine mit unterschiedlichen Schwerpunkten in Northeim kontaktiert. Die Mitglieder sollten filmisch portraitiert werden, die Gruppe, ebenso wie die Einzelpersonen, aus denen sie sich zusammensetzt. Doch die Künstlerin hat eine ungewöhnliche Setzung für diese Arbeit gemacht: Die jeweilige Gruppe wird aus ihrem eigentlichen Zusammenhang herausgelöst und nicht bei ihrer typischen Vereinsaktivität gezeigt. Stattdessen wurden die Orte und Aktivitäten der Vereine untereinander ausgetauscht. Die beteiligten Personen wurden gebeten zweckmäßige Kleidung zu tragen. Es entsteht eine Spannung zwischen der bekannten Gruppe und der neu gewählten Umgebung. Durch die Setzungen der Künstlerin wird die Wahrnehmung auf relevante Punkte der Gruppenzugehörigkeit fokussiert: Können wir erraten, welchen Zweck der jeweilige Vereinszusammenschluss hat? Bedingt die Zugehörigkeit etwa eine bestimmte körperliche Voraussetzung oder eine spezielle Geschlechtszugehörigkeit? Inwiefern ist unsere soziale Rolle in der äußeren Erscheinung ablesbar?
Es sind diese - zumeist unbewusst - unsere Realitätswahrnehmung und Gesellschaft formenden sozialen Codes, die Meike Redeker in dieser Arbeit thematisiert. Doch sie beleuchtet darüber hinaus auch ihr eigenes Medium und ihre Rolle als Künstlerin selbst: Die Pose des Gruppenbilds ist von den Akteuren selbst gewählt, die jeweilige Umgebung wurde mit nur wenigen Hilfsmitteln abgebildet. So hinterfragt sie das Gruppenportrait im Spannungsfeld von Authentizität und Konvention und gibt einen Teil der Kontrolle an die Gruppe ab.
Ein kompletter Kontrollverlust bestimmt dagegen das Handlungsgeschehen von Die Brücke (2015). Das Bild wirkt qualitativ schlecht und schwankt hin und her, es wird sofort deutlich, dass kein professionelles Kameramaterial benutzt wurde. Man sieht zunächst einen kleinen Plastikpinguin, der in einer „Landschaft“ aus Fischfilet und Eis in einem Tiefkühlfach steht. Die absurde Narration beginnt und wird noch weitergesponnen, wenn wir eine Stimme aus dem Off hören. Es ist die Filmende selbst, die in das Mikrofon der Kamera spricht. Die Umgebungsgeräusche sind deutlich als Rauschen im Hintergrund wahrnehmbar als sie auf die Straße tritt. Alles wirkt improvisiert. Tatsächlich hat Meike Redeker für diese Produktion eine günstige Handkamera für Kinder verwendet. Die Hauptfigur des Films, die kaum körperlich in Erscheinung tritt, versucht die niedrige Perspektive eines kleinen Kindes einzunehmen und kommentiert ihr Scheitern mit naiv-kindlicher Stimme. Entweder kann sie nicht richtig laufen oder die Kamera gibt nicht ihren Blick wieder. Durch den Monolog wird die Autorität der Kamera verdeutlicht: Sie dominiert die Körperbewegungen und fungiert als Stellvertreterin für den Blick. In einer Fußgängerzone fängt die Protagonistin an, für eine auf dem Boden zu erkennende Parade aus Spielzeugtieren verschiedenster Arten, aus hölzernen Eis-Stielen eine Brücke zu bauen. Eindringlich spricht sie vorübergehende Passanten an, sie mögen doch bitte ein, in Plastik verpacktes, Eis am Stiel essen, um aus dem übrig gebliebenen Holzstiel die Brücke weiterbauen zu können. Die „Tiere“, eigentlich nur Massenprodukte, werden zu Stellvertretern der Natur, der Konsum zur vermeintlichen Rettungsaktion. Irritiert von der Kamera und ohne Verständnis für die vorgetragene Dringlichkeit der Notsituation lehnen die Vorbeieilenden ab: Keiner hat Zeit. Das mitgebrachte Eis schmilzt. Am Ende zerdrückt der Schuh eines eiligen Fußgängers den bereits bestehenden Teil der Brücke. Damit ist das Unterfangen endgültig gescheitert. Das weiterlaufende Alltagsleben verläuft mit dem fiktiven Filmgeschehen. Über diese Auflösung der Kontur von Fiktion und Realität greift Die Brücke nahezu spielerisch die Konstruktion von Wertigkeit und Bedeutung auf.
Déja-Vu zeigt sehr kohärent einen Schwerpunkt von Meike Redekers Arbeit: Sie setzt Irritationen ein und produziert Störfälle. Damit verweist sie auf einen interessanten Fakt: „Die Pointe gesellschaftlicher Normalität ist es, dass sie entgegen allem Anschein gerade nicht normal, nicht selbstverständlich, sondern im gesellschaftlichen Vollzug konstruiert ist.“ ² Der Störfall zeigt uns die Fragilität dieser Konstruktion und deutet an wie viel Fiktion in unseren Routinen und Institutionen tatsächlich enthalten ist.
¹ Vgl.: Carl Gustav Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten in: Zwei Schriften über Analytische Psychologie, 1964, 3. Auflage 1981, GW 7, Kapitel 1.2., § 243-246.
² Vgl.: Jörn Ahrens: Zur Fragilität gesellschaftlicher Realität, in: Störfälle: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Ausgaben 2-2011, S. 77.
(Anm. d. Autorin: Jörn Ahrens spricht hier hauptsächlich von Störfällen im Kontext von Gewaltdelikten. Seine Beobachtungen stellen jedoch auch für die hier beschriebenen inszenierten Störfälle eine gewinnbringende Erkenntnis dar.)